Konsum und Produktion von Kultur sind straffrei

Hartwig Thomas, 24.04.2018


In der Botschaft des Bundesrats, die den Entwurf zur anstehenden Revision des Urheberrechts begleitet, steht schon im sechsten Absatz auf der zweiten Seite unter "1.2 Modernisierung des Urheberrechts":

Im Bereich der Internetnutzungen geht der Bundesrat davon aus, dass rund ein Drittel der über 15 jährigen Schweizer bereits einmal Musik, Filme und/oder Computerspiele heruntergeladen hat, ohne dafür bezahlt zu haben. [Hervorhebung HT]

Diese einleitende Bemerkung zur Revision des Urheberrechts ist leider typisch für die Desinformation, die auch vom Bundesrat um dieses Geschäft verbreitet wird.

Piraterie

Falsche Zahlen

Denn erstens ist die Quelle der Behauptung mehr als zweifelhaft. In der Erläuterung wird auf einen Bericht des Bundesrats aus dem Jahr 2011 zum Postulat Savary verwiesen, welches - wohl im Namen der SUISA, in deren Vorstand Nationalrätin Savary amtet - ein "Gesetz gegen das illegale Herunterladen [sic!] von Musik" forderte. In diesem Bericht wird eine obskure niederländische Studie aus dem Jahr 2009 zur Tauschbörsennutzung zitiert, aus der geschlossen wird:

Rund ein Drittel der über 15-jährigen Schweizer hat Musik, Filme und/oder Games heruntergeladen, ohne dafür bezahlt zu haben. [Hervorhebung HT]

Selbst wenn diese Zahlen aus dem Jahr 2009 auf die Schweiz anwendbar gewesen sein sollten, wissen wir aus einer Statistik des Bundesamts für Statistik (BfS) aus dem Jahr 2017, dass höchstens 10-15% der Internetnutzer in den Jahren 2010-2017 Musik oder Filme von Peer-to-Peer-Netzwerken heruntergeladen haben. Peinlich, dass der Bundesrat 2018 noch mit niederländischen Zahlen von vor 2009 operiert.

Tauschbörsen mit Einverständnis der Urheber und Rechteinhaber

Als Nebenbemerkung ist noch das Versagen der Musikindustrie anzuführen. Dieses führt dazu, dass ganze Musiksubkulturen - wie gewisse Heavy-Metal-Communities - die Peer-to-Peer-Netzwerke völlig legal und mit Einverständnis aller Urheber und Rechteinhaber als Verbreitungsmittel nutzen. Sie haben sich aus dem Diktat der multinationalen Musik-Oligopole ausgeklinkt. Ihr Einkommen erzielen sie von den Fans, die an ihre Konzerte kommen und ihre Musik untereinander online teilen. Ein wahrscheinlich beträchtlicher Anteil der vom BfS verzeichneten "Nutzungen" von Peer-to-Peer-Netzwerken ist also höchst urheberrechtkonform.

… und/oder Games

Schliesslich wäre noch festzuhalten, dass interaktive Games, die inzwischen zu einem wichtigen Zweig kultureller Aktivität geworden sind, nicht einmal explizit im Urheberrecht als schützenswerte Werke aufgeführt sind. Somit sind sie nur als Screenshots und Texte, nicht aber in ihrem Interaktivitätsdesign urheberrechtlich geschützt. Diese systematische Missachtung der IT-Industrie spiegelt sich übrigens im ganzen URG wieder: in der Schlechterstellung von Softwareentwickern gegenüber anderen Urhebern sowie in den exorbitanten Zwangsabgaben, die vor allem von der IT-Industrie für (leeren!) Speicherplatz, Geräte (Smartphones, Drucker, …) und Netzwerknutzung entrichtet werden müssen.

... ohne dafür bezahlt zu haben

Zweitens, und viel gewichtiger, ist die infame Unterstellung unwahr, dass es illegal und somit strafbar ist, kulturelle Inhalte herunterzuladen, also Kultur zu konsumieren, ohne dafür bezahlt zu haben. Der Eindruck, dass alle, die etwas herunterladen, ohne dafür bezahlt zu haben, etwas Verwerfliches, Unmoralisches, Verbotenes tun, ist schlicht falsch. Es handelt sich um Fake News, die von den Profiteuren der Abmahnwellen und Zwangsabgaben in die Welt gesetzt, verbreitet und stur verteidigt werden.

Konsum und Nutzung

Die Kulturfunktionäre, die momentan wieder alles daran setzen, das Urheberrecht weiter auf Kosten der Allgemeinheit zu verschärfen, spielen ein Spiel der terminologischen Verwirrung: Sie reden von Nutzern und Nutzungen und versuchen, uns glauben zu machen, dass im Gesetz damit die Konsumenten kultureller Werke gemeint sind. Dabei wird im Urheberrecht unter “Nutzer” jemand verstanden, der aus der “Nutzung” eines Werks einen - materiellen - “Nutzen” zieht. Also zum Beispiel jemand, der gewerblich mit Raubdrucken von Büchern handelt, o.ä.

Auch das Wort “Piraterie” wird systematisch umdefiniert. Bezeichnete zu Zeiten staatlicher Monopolsender das Wort “Piratensender” noch die Institution, die etwas Verbotenes tat, wird jetzt die Bezeichnung “Pirat” auf die Empfänger angewendet, die völlig legal handeln. Und diese sollen mit technischen Mitteln “gegen Piraterie” an der Ausübung ihrer legalen Rechte gehindert werden.

Für die lügnerische Unterstellung, dass überhaupt alles Sehen oder Hören moralisch verwerflich und strafbar sei, wenn man nicht dafür bezahlt hat, wird den Verwertungsgesellschaften und der IFPI vielerorts sogar ein Forum in der Schulstunde eröffnet.

Dieselben Schulen werden von den Kulturschaffenden mit exorbitanten “Generellen Tarifen” der Verwertungsgesellschaften abgezockt, weil sie angeblich “Nutzer” sind, d.h. einen “Nutzen” daraus ziehen, dass sie dafür sorgen, dass die Schüler mit kulturellen Werken in Kontakt kommen.

Aber auch in Regionalzeitungen findet man immer wieder die implizite Unterstellung, dass der Gratiskonsum kultureller Werke ein Vergehen sei.

Witzigerweise findet man diesen Unsinn sogar in Gratiszeitungen, die ja wohl mehr zur Gratismentalität in der Bevölkerung beigetragen haben, als Facebook und Google zusammen.

"Hast du gewusst, dass, wenn man gratis Musik hört, Musiker verarmen und deshalb Konzerttickets immer teurer werden" Rütner, 6. April 2018 - Hinweise für Jugendliche zum vernünftigen Umgang mit dem Internet.

Wer im Zürcher Hauptbahnhof durch die unterirdischen Gänge des Shopville irrt, weiss natürlich, dass man dauernd unfreiwillig zum Gratishören von Musik genötigt wird, ohne dafür bezahlt zu haben. Man müsste eigentlich im Urheberrecht eine Strafe für Nutzer, Verwertungsgesellschaften, Rechteinhaber und Urheber vorsehen, welche gegen unseren Willen unser optisches und akustisches Umfeld mit ihren "Werken" vollmüllen oder ihre Textfetzen als Unrat unter unsere Füsse plazieren!

In Tat und Wahrheit profitieren Musiker natürlich davon, dass jemand ihre Musik hört. Seit dem Aufkommen des Internet haben sich die Einnahmen der "verarmten" Musiker aus Livekonzerten verzehnfacht. (Auch die Anzahl Musiker hat sich seit 1995 verdoppelt. Und unter ihnen finden sich deshalb auch wieder einige, die sich vom schwachen Einkommen in einem übersättigten Markt nicht von dieser Berufswahl abschrecken lassen.) Nicht wegen des Gratishörens, sondern wegen der steigenden Nachfrage werden Konzerttickets teurer. Die Vermittlung von Kultur in der Schule und Universität nützt den Urhebern und den Nutzern und muss endlich von allen unkontrollierten Zwangsabgaben an die Verwertungsgesellschaften befreit werden!

Straffreiheit von Kulturkonsum muss gesetzlich verankert werden

Wenn sogar die für das Urheberrecht zuständige Bundesrätin Sommaruga es als grosse Errungenschaft preist, dass der Download mit der angestrebten Revision des Urheberrechts straffrei bleiben und somit "die Konsumenten ... nicht kriminalisiert" werden sollen, ist es an der Zeit, dass der Allgemeinheit dieses Restchen an Rechten explizit im Urheberrecht zugestanden wird.

Denn das Urheberrecht schränkt den Bereich der allgemein zugänglichen Kultur - die Public Domain - laufend ein. Es enthält immer mehr Rechte für die Profiteure, ohne dass diese mit Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit kompensiert werden.

Das Recht auf freie Benutzung ihrer Sinne und Organe - ohne Linzenzzahlung oder Zwangsabgaben an Verwertungsgesellschaften - muss also als ausgleichendes Menschenrecht allen Menschen zugestanden werden.

Etwa so:

Art. 12a Jedes menschliche Wesen hat das Recht, zu sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen, denken, erinnern, sprechen, singen, tanzen und bewegen, ohne dafür irgendwem irgendeine Vergütung zu schulden, auch wenn dabei urheberrechtlich beschränkte Inhalte betroffen sind, solange dabei Dritten kein urheberrechtlich eingeschränkter Zugang eingeräumt wird.

Wenn die Kulturschaffenden auch in zehn Jahren noch kulturelle Werke produzieren wollen, müssen gerade sie sich heute für die Straffreiheit von Konsum und Produktion von Kultur einsetzen. Denn heute sind viele Konsumenten auch Produzenten und viele Kulturschaffende leben vom Download. Wenn sie sich, wie dies heute leider weit verbreitet ist, nur von Eigennutz und Geiz leiten lassen und ihr Publikum ausbluten und den Konsum verbieten, schaden sie nicht nur der Reputation aller Kulturschaffenden, die zunehmend nur noch als Subventionsjäger und Fallensteller wahrgenommen werden, sondern auch der Kultur ganz allgemein.

Ceterum Censeo

Um den gröbsten Urheberrechts-Abzockern Einhalt zu gebieten, sind die Verwertungsgesellschaften zu entstaatlichen. Sie und die unter falscher Flagge segelnde Eidgenössische Schiedskommission - kein Schiedsgericht zwischen der immer mehr eingeschränkten Allgemeinheit und den Urheberrechtsprofiteuren, sondern zwischen Rechteinhabern und “Nutzern”, deren Vertreter nicht einmal von den Zwangsabgabepflichtigen mandatiert sind! - sind gänzlich aus dem Urheberrecht zu streichen.